Epochen
des Strafrechts
8.
Abschnitt - Die soziale Epoche
A. Strafrechtswissenschaft
I.
Soziale Strukturveränderungen
II.
Neuorientierung des wissenschaftlichen Denkens
III.
Liszt und die soziologische Schule
B. Strafrechtsreform
und Veränderung des Strafrechts
I.
Zeit vor dem 1. Weltkrieg
II.
Zeit nach dem 1. Weltkrieg
C. Strafprozessreform
und Veränderung des Strafprozess-
rechts
D. Gefängnisreform
und die Reichsratsgrundsätze
E. Veränderung
der Staatsform
I.
Ende der Monarchie und Weimarer Republik
II.
Neue Reichsverfassung
III.
Mängel der Weimarer Republik
IV.
Ende der Weimarer Republik
8.
Abschnitt - Die soziale Epoche
A.
Strafrechtswissenschaft
I.
Soziale Strukturveränderungen
Der enorme Aufschwung der Technik und die wirtschaftliche Entfaltung
führten zu einer Industrialisierung und Entwicklung der Großstädte.
Die Folge waren Elends- und Massenquartiere, in denen der Keim für
soziale und politische Spannungen aufkommen musste. Es formte sich
der vierte Stand, der zu einem politischen Faktor wurde. „Liberal“
war letzten Endes nur eine Definition dafür, um bei unbedingter
Freiheit von allen Bindungen auf die Jagd nach Vermögen, Ehre
und Ruhm zu gehen. Der sittliche Idealismus wich einem egoistischen
Materialismus, der blind war für alle sozialen Aufgaben, vor
allem, dem Arbeiterstand die Lebensmöglichkeiten zu sichern.
Es entwickelte sich im Arbeiterstand die proletarische Messenexistenz.
Was nutzt dem Arbeiter die Vertragsfreiheit, wenn er die Verträge
von wirtschaftlich mächtigen Arbeitgebern diktiert bekommt?
Was nutzt ihm die Idee einer autonomen Persönlichkeit, wenn
sein Leben aus Zwang, Dreck und Unfreiheit besteht? Dieser vierte
Stand verlangte vom Staat vielmehr als bloße Rechtsschutzanstalt
zu sein. Ausreichend Arbeitsgelegenheit und gesicherte Existenz
waren erforderlich.
II.
Neuorientierung des wissenschaftlichen Denkens
Schon die Aufklärung hatte aus der Geschichte die Entwicklungsrichtung
entnehmen wollen, deren Feststellung einen über den Punkt der
Gegenwarthinausweisenden sicheren Ausblick auf das Zukünftige
ermöglichen sollte. Seit Schelling[1] war
daraus der Gedanke einer organischen Entwicklung geworden. Loening[2]
(1882): „Das heutige Strafrecht ist seinem Geiste, wie seinen
Einzelheiten nach als Produkt der Geschichte darzustellen; in Anlehnung
an die Resultate der historischen Forschung hat der Rechtslehrer
seine Lehrsätze über das geltende Recht zu formieren und
die Bedeutung des jetzt Geltenden zu entwickeln.“
In der Naturwissenschaft setzte sich in der 2. Hälfte des 19.
Jahrhunderts ein gewaltiger Aufschwung ein. Das „System vom
Werden der Welt, vom Ziel und Sinn des menschlichen Daseins“
schien erklärbar. Mit Darwins Entwicklungstheorie der Arten
kam der große Durchbruch. Während Darwin die Entwicklungslehre
nur auf die Naturwissenschaften begrenzte, übernahm Merkel
sie für die Rechtswissenschaft. Liszt führte ihn noch
weiter und machte ihn zur Grundlage seines ganzen Rechtsdenkens
und zum Angelpunkt seiner Strafrechtstheorie.
III.
Liszt und die soziologische Schule
Liszt[3]
stand unter dem nachhaltigen Einfluss von Rudolf v. Ihering[4].
Von Ihering abgeleitet wurde für ihn der Zweckgedanke und seine
Bedeutung für das Recht allgemein und für das Strafrecht
im Besonderen zum Leitmotiv seiner Arbeit.
Als Student gehörte er der Deutsch-nationalen Partei an und
Verehrte Bismarck. Später wandte er sich dem linken Flügel
der Liberalen zu. Sein Wesen zielte auf „schöpferische
Synthese“ ab - auf Ausgleich der Gegensätze, auf Vereinigung
von scheinbar Auseinanderstrebenden. Diese Synthese begegnet in
der „Vereinigungstheorie“ und der Verbindung des Sozialen
mit dem Liberalen wieder.
Liszt gilt als Begründer der modernen Kriminalpolitik. Über
die Zweckmäßigkeit des Strafrechts schreibt er 1893 sehr
provokant: „Nach meiner Meinung ist das Strafgesetzbuch die
magna charta[5] des Verbrechers. Es schützt
nicht die Rechtsordnung, nicht die Gesamtheit, sondern den gegen
diese sich auflehnenden Einzelnen. Es verbrieft ihm das Recht, nur
unter den gesetzlichen Voraussetzungen und nur innerhalb der gesetzlichen
Grenzen bestraft zu werden. Der Doppelsatz: nullum crimen sine lege,
nulla ponea sine lege ist das Bollwerk des Staatsbürgers gegenüber
der staatlichen Allgewalt, gegenüber der rücksichtslosen
Macht der Mehrheit, gegenüber dem Leviathan[6].“
Es kommt ihm darauf an, dass blindes Zweckmäßigkeitsdenken
nicht die Gerechtigkeit überrennt. Die „staatliche Allmacht
soll nicht über das Recht der Gefahren entkleidet werden“.
Auch muss der anständige und gesetzestreue Bürger gegen
Übergriffe und Willkür von Behörden und Beamten gesetzlich
geschützt werden.
In der Strafrechtswissenschaft herrschen zwei Problemkreise: juristische
und kriminalpolitische. Das Strafrecht steckt den Bereich ab, auf
dem die am sozialen Gedanken orientierte Kriminalpolitik den Kampf
gegen die Verbrecher zu führen hat, ausgerichtet an Zweckmäßigkeitsgeschichtspunkten.
Der Entwicklungsgedanke hat für Liszt grundlegende Bedeutung.
Das Recht hat bei ihm etwas mit Sollen zu tun, wogegen aber der
Gegenstand wissenschaftlicher Arbeiten das Sein ist. Wenn nun Sollen
und Sein Gegensätze sind, gibt es dann keine Brücke zwischen
beiden? Soll der denkende Mensch bei diesem Dualismus stehen blieben
und nur auf das Trennende sehen? Oder besteht doch die Möglichkeit
einen „schöpferischen Synthese“? Liszt findet diese
Synthese im Gedanken der Entwicklung. Im Begriff der Entwicklung
vollzieht sich die „Synthese des Seienden und des Seinsollenden“.
„Aus dem Seienden und nur aus ihm“ kann das Seinsollende
mit Hilfe des Entwicklungsbegriffes bestimmt werden. Da alles Seiende
auf Veränderung angelegt ist, tendiert es auf etwas Seiensollendes
gemäß dem Walten des Gesetzes des Werdens und der Entwicklung.
So löst Liszt unter Einsatz des Entwicklungsgedankens das Problem
des „richtigen Rechts“. Die Aufgaben der Kriminalpolitik
sind Kritik am überkommenen Strafrecht und Auffinden des richtigen
Weges zur Neuordnung.
Für den Aufgabenkreis der Strafrechtswissenschaft hat er drei
Komplexe gebildet: 1. Die pädagogische Aufgabe gegenüber
den Strafjuristen. Sie umfasst nicht nur die juristische Ausbildung,
sondern auch eine kriminalistische. Letztere Umfasst die Methoden
der Ermittlung von Sachverhalten, die Entdeckung und Überführung
von Tätern und die Rekonstruierung der Tatbilder seitens Kriminalpolizei
und Staatsanwaltschaft. 2. Die auf wissenschaftliche Erkenntnis
von Verbrechen und Strafe abzielende Aufgabe: Methoden zu Erforschung
der Ursachen des Verbrechens, zur Erkennung der Eigenart des Verbrechers
und zur Untersuchung der Wirkungsmöglichkeit der Strafe. Diese
Aufgabe hat die Wissenschaft unter Beachtung der historischen Entwicklung
des Verbrechers und des Verbrechens zu erfüllen. 3. Die kriminalpolitische
Aufgabe: Unter Einsatz des Entwicklungsgedankens ist die Richtung
zu erforschen, in der sich die Geschichte von Verbrechen und Strafe
bewegt, um die Sollensgrundsätze zu ermitteln, nach denen der
Gesetzgeber das Strafrecht weiter zu entwickeln hat. Also zur Gewinnung
der Erkenntnis, ob das geltende Strafrecht verbesserungsbedürftig
ist und welche Mittel im Kampf gegen das Verbrechen notwendig sind.
Auf dem Gebiet von Verbrechen und Strafe war es das Anliegen von
Liszt, aus den verschwommenen Vorstellungen einer rationalistischen
Verbrecherkonstruktion herauszukommen und den Verbrecher in seinem
wirklichen Wesen kennen zu lernen. Dieser Vorstellung dienen auch
die drei Aufgaben der Strafrechtswissenschaft. Damit sollte der
Feind erkannt werden und die bisherigen Abwehrmaßnahmen anhand
dessen kritisch überprüft werden. Solches hatte vor ihm
schon Lombroso[7]
versucht. Anhand von gesammelten empirischen Material glaubte Lombroso,
den delinquente nato[8] gefunden zu haben. Also
jene besondere Spezies des homo sapiens, die in Körperbau und
Empfindungsleben anthropologische, also naturwissenschaftlich erkennbare
Eigenart aufweist, an denen die Bestimmungen zum Verbrecher ablesbar
sind. Liszt lehnte jede rein biologische Auffassung des Verbrechers
ab. Eine ausschließliche Ableitung aus körperlichen und
geistigen Eigenarten konnte es nicht geben, denn die Entwicklung
des Menschen werde auch von seiner Umwelt beeinflusst. Nur zusammen,
aus anthropologischen und soziologischen Merkmalen war die Erkennbarkeit
eines Verbrechertypus möglich. Damit glaubte er, alle rationalen
Spekulationen überwunden zu haben, auf dem Weg zur Empirie.
Liszts Kritik an der Straftheorie der Hegelianer: „Dass auch
das Strafrecht um des Menschen willen da ist, dass die Strafe die
Aufgabe hat, die Rechtsordnung und mit ihr die Lebensinteressen
der Rechtsgenossen zu schützen, das Verbrechen zu Bekämpfen
durch Besserung, Abschreckung, Unschädlichmachung des Verbrechers,
das ist heute noch Ketzerei. Als ob nicht ein Blick auf die erste
beste Strafanstalt es auch dem blödesten Auge klar machen müsste,
dass die Strafe wahrlich etwas anderes ist, als die dialektische
Entwicklung des Rechtsbegriffs, als die Negation der Negation des
Rechts. Wir, die wir auf der empirischen Grundlage der Lebenserscheinungen
unsere Ansichten aufbauen, sind ja nicht in der glücklichen
Lage der Dialektiker, aus einem ersten gegebenen Begriff das ganze
konstruktive Gebäude aufbauen zu können.“ Sein empirisches
Material, welches er für seine Betrachtung der Wirklichkeit
braucht, entnimmt Liszt der Geschichte.
Die ursprüngliche Strafe ist nichts als eine „blinde,
instinktmäßige, triebhafte Reaktion der Gesellschaft
gegen äußere Störungen der Lebensbedingungen“.
Sie stellt eine bloße Triebhandlung dar, also den Ausfluss
eines Strebens nach Selbstbehauptung des Individuums, nach individueller
Erhaltung seiner selbst und seiner Art. In der Geschichte der Menschheit
vollzieht sich nun ein Wandel: „Aller Fortschritt in der geistigen
Entwicklung des Individuums wie der Menschheit besteht darin, dass
die Triebhandlung in die Willenshandlung such umsetzt, d.h. dass
die Zweckmäßigkeit der Triebhandlung erkannt und die
Vorstellung des Zwecks zum Motiv des Handelns wird. Der Zweckgedanke
ist es, der die Willenshandlung von der Triebhandlung unterscheidet“
(Objektivierung der Strafe).
Verhältnis von General- und Spezialprävention: Nur der
Staatsbürger, der sich in die gesellschaftliche Ordnung einfügt,
hat Anspruch auf persönliche Freiheit und Selbstbestimmung.
Wer aber von einem Strafgericht als „Verbrecher“ überführt
wurde, dem gegenüber hat der Staat das Recht, dessen Persönlichkeit
soweit in Anspruch zu nehmen, wie es notwendig ist, um weiteren
Begehungen durch ihn vorzubeugen. Die Entscheidung, ob eine Resozialisierung
möglich ist oder für eine physische Unschädlichmachung
gesorgt werden muss, ist Sache der Kriminalpsychologie. Für
Liszt ist der Strafzweck also spezialpräventiv.
Verhältnis von Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit:
„Die richtige, d.h. die gerechte Strafe ist die notwendige
Strafe. Gerechtigkeit im Strafrecht ist die Einhaltung des durch
den Zweckgedanken erforderlichen Strafmaßes. Das völlige
Gebundensein der Staatsgewalt durch den Zweckgedanken ist das Ideal
der strafenden Gerechtigkeit.“
Strafe ist ein „zweischneidiges Schwert“ - es bewirkt
„Rechtsgüterschütz durch Rechtsgüterverletzung“,
denn mit jeder Bestrafung wird auch ein neues Übel in die Welt
gesetzt. Diese Gefahr kann nur durch den Zweckgedanken gebannt werden,
der richtig eingesetzt wird.
Strafe ist für Liszt in erster Linie Strafverfolgung. Seine
Form des Rechtsgüterschutzes durch Strafe sind Besserung, Abschreckung
und Unschädlichmachung. Wann welches Mittel anzuwenden ist,
bestimmen die bisherigen Ergebnisse der kriminalanthropologische
und die statistischen Untersuchungen der soziologischen Beobachtungen
(Prinzip der Individualisierung). Die drei Formen finden ihre Ergänzung
in den drei Verbrechertypen: Augenblicksverbrecher (Abschreckung),
besserungsfähige Zustandsverbrecher (Besserung) und unverbesserliche
Zustandsverbrecher (Unschädlichmachung). Zu den letzteren gehören
Bettler, Vagabunden, Prostituierte, Alkoholiker, Halbweltmenschen
- also alle sog. „Gewohnheitsverbrecher“. Ihre Unschädlichmachung
geschieht durch lebenslange Freiheitsstrafe, „da wir köpfen
und hängen nicht wollen und deportieren nicht können“.
Hier erscheint bei Liszt auch wieder die anthroposophische Erkennbarkeit
von (Gewohnheits-) Verbrecher. Lomboro hat ihr zugestimmt. Die französischen
Milieutheorie von Lacassagne[9] dagegen abgelehnt,
denn die Umwelt bedeutet alles und die Eigenart des Verbrechers
ist auf Umwelteinflüsse zurückzuführen (auch die
materialistische Geschichtsauffassung von Karl Marx beruht auf diesem
Gedanken). Liszt verbindet beides: das Verbrechen ist „das
Produkt aus der Eigenart des Täters im Augenblick der tat und
aus den ihm in diesem Zeitpunkt umgebenden äußeren Verhältnisse“.
Zur wirksamen Bekämpfung des Verbrechertums konnte Strafe nicht
das alleinige Allheilmittel sein. Gerade in den Sicherungsanstalten
herrschten schlimme Zustände und Augenblicksverbrecher werden
dort zu Gewohnheitsverbrechern gemacht. Darum ist neben dem System
der Strafen auch ein System „sichernder Maßnahmen“
notwendig, so Jugendlichen gegenüber Erziehungsmaßregeln,
Trinkern gegenüber Trinkerheilanstalten und Wirtshausverbot,
Geisteskranken gegenüber Pflegeanstalten, Arbeitsscheuen gegenüber
Arbeitshaus. Besonders bei Augenblicksverbrechern soll Freiheitsstrafe
vermieden werden.
Strafrechtsdogmatik
von Liszt: Seine Strafauffassung stellt einerseits hohe Ansprüche
an den Staat, gewährt ihm aber auch einen Anspruch, die Persönlichkeit
des Einzelnen in weitgehendem Maße seinen Zwecken unterzuordnen.
Er will vom Staat, dass dieser dem gesetzestreuen Bürger alle
liberalen Rechtsschutzgarantien überlässt. Der Verbrecher
soll aber die Macht des Staates in gesteigertem Maße spüren.
Wobei Unterschiede nach Grad ihrer sozialen Gefährlichkeit
gemacht werden sollen. Die Gesetzgebung ist das Mittel zur Grenzziehung
und soll die materiellen Voraussetzungen dafür, wann ein Einzelner
zum Verbrecher wird, aufs Genauste festlegen. Die Strafprozessgesetzgebung
hat dafür zu sorgen, dass der Einzelne sich gegen den Verdacht,
Verbrecher zu sein, in ausreichender Weise verteidigen kann.
Die materiellen Voraussetzungen zur Grenzziehung sollen durch Erarbeitung
scharfer juristischer Begriffe bewirkt werden, mit denen der Richter
bei der Frage nach dem „Ob“ der Strafe oder sichernden
Maßnahmen zu einem scharfen, klaren Denken gezwungen wird
und die Grenze zwischen strafbarem und straflosem Verhalten eindeutig
bestimmt ist. Verbrechenselemente sind Handlung, Rechtswidrigkeit
und Schuld. Verbrechensformen sind Vollendung und Versuch, Täterschaft
und Teilnahme, Einheit und Mehrheit des Verbrechens.
B.
Strafrechtsreform und Veränderung des Strafrechts
I.
Zeit vor dem 1. Weltkrieg
1902 wurde vom Reichsjustizamt ein wissenschaftliches Komitee aus
acht Professoren berufen - klassische und moderne Schule (je 3)
und vermittelnde Richtung (2). Sie sollten eine rechtsvergleichende
Darstellung aller in Betracht kommenden strafrechtlichen Materien
geben und unter kritischer Würdigung der Ergebnisse dieser
Arbeit Vorschläge für die deutsche Gesetzgebung ausarbeiten.
Im Jahre 1906 lag in 16 Bänden die „Vergleichende Darstellung
des Deutschen und Ausländischen Rechts“ vor.
Zeitgleich arbeiteten fünf praktische Juristen an einem „Vorentwurf“
zu einem neuen deutschen Strafgesetzbuch. 1906 kam dieser „Vorentwurf“
heraus. Beide Richtungen wurden darin berücksichtigt. Die „klassische
Schule“ durch den Vergeltungscharakter der Strafe; die „moderne
Schule“ mit ihren kriminalpolitischen Forderungen, u.a. durch
eine Reihe sichernder und bessernder Maßnahmen.
Zu diesem „Vorentwurf“ gaben vier Professoren 1911 einen
„Gegenentwurf“ nebst Begründungen heraus.
Im gleichen Jahr begannen auch die Durchberatungen des „Vorentwurfs“
durch eine 16 köpfige Kommission (3 Prof. und 13 Praktiker).
1913 entstand so der „Kommisions-Entwurf“, der aber
wegen des Ausbruchs des Krieges nicht weiter geführt wurde.
Erst 1919 fand er wieder Beachtung und wurde nochmals den politischen
Gegebenheiten (Novemberrevolution 1918) angepasst: „Entwurf
1919“.
Auch
das bestehende Reichsstrafgesetzbuch wurde novelliert. In der Novelle
von 1912 kam es zu verschiedenen Milderungen einzelner Strafdrohungen.
Der Tatbestand des Mundraubs (§ 370 Ziff. 5) wurde eingefügt.
Aus dem Diebstahl, der Unterschlagung und dem Betrug wurden die
Fälle der Notentwendung und Notunterschlagung (§ 248a),
sowie des Notbetrugs (§ 264a) herausgelöst. Diese Milderungen
waren eine Folge der sozialen Auffassung vom Verbrechen.
Auf dem Verwaltungsweg kam es zu einer wichtigen spezialpräventiven
Resozialisierungsmaßnahme: der sog. „bedingten Verurteilung“.
Man hatte erkannt, dass im Gefängnis die kriminelle Ansteckungsgefahr
sehr hoch war. So wollte man erstmals Straffälligen einen starken
Antrieb geben, sich durch Wohlwollen die Berührung mit dem
Gefängnis zu ersparen, sich also Straffreiheit zu verdienen.
Im falle geringer Delikte wurde beim Ersttäter nur die Schuld
festgestellt, die Strafzumessung aber ausgesetzt, wenn der Verurteilte
sich während einer Bewährungszeit einwandfrei führte.
Seit 1882 wurde eine Kriminalstatistik geführt. Sie ist zu
einer der wichtigsten Grundlagen der (kriminalistischen) modernen
Schule geworden. Von 1882 bis 1911 ging die Zahl der Ersttäter
von 736 auf 641 zurück, die Zahl der Wiederholungstäter
jedoch stieg von 259 auf 540 (je 100000 Personen).
II.
Zeit nach dem 1. Weltkrieg
1922 legte Justizminister Radbruch[10] der Reichsregierung
einen neuen Entwurf vor. Er enthielt gegenüber dem „Entwurf
1919“ zwei bedeutende Abweichungen: Abschaffung der Todesstrafe
und der Zuchthausstrafe.
Nach
Beratungen wurde er als „amtlicher Entwurf eines Allgemeinen
Deutschen Strafgesetzbuch“ gedruckt und 1925 dem Reichsrat
zugeleitet. Hier machte sich Kahl[11] um diesen
„amtlichen Entwurf“ sehr verdient, in dem er die Arbeiten
daran immer wieder veranlasste und vorantrieb. Aufgrund der Zerrissenheit
der Parteien und der politischen Verhältnisse gab es keine
Einigung. Die Ergebnisse des Jahres 1933 brachten dann das Ende
der Weimarer Republik und das Ende der Strafrechtsreform.
Obwohl ein neues Strafgesetzbuch scheiterte, gab es doch Änderungen
an dem bestehenden:
•
1919 ein Gesetz gegen das Glückspiel - in den Städten
hatte das Treiben der sog. Spielklubs stark zugenommen.
•
1920 ein Gesetz über die Wiedereingliederung Verurteilter in
die bürgerliche Gesellschaft durch Tilgung von Strafvermerken.
•
1923 ein Jugendgerichtsgesetz - es ergab sich die Notwendigkeit
erzieherischer Maßnahmen für die stark anwachsende Verwahrlosung
der Jugend nach dem Krieg.
•
1926 eine Novelle zur bisherigen Abtreibungsbestimmung (§ 218)
- in der Nachkriegszeit ist aufgrund der sozialen Not und des Sittenverfalls
das Verhältnis von Aborte zu Geburten auf 20 % angestiegen,
vor dem 1. Weltkrieg hat es bei 5 % gelegen. Erhebliche Milderungen
wurden bestimmt, denn die Gründe von 1871 (Schutz der Leibesfrucht
im Interesse der Volksvermehrung) war nicht mehr zeitgemäß.
Die Geldstrafe hatte der Freiheitsstrafe den Rang abgelaufen und
stieg immer mehr an. Im Jahre 1928 wurden 69 % aller Verbrechen
und Vergehen mit Geld bestraft.
C.
Strafprozessreform und Veränderung des Strafprozess-rechts
Auch im Strafverfahrensrecht drängten die Umstände nach
Veränderungen. Das Gesetz von 1877 schien bald veraltet. Schon
1894 und 1895 lagen dem Reichstag neue Entwürfe vor. Drin sollten
die Strafkammern mit drei Richtern besetzt werden und die Berufung
gegen ihre Urteile an die Oberlandesgerichte zulässig sein.
Der Entwurf fand jedoch keinen Anklang.
1902 berief Nieberding[12] eine Sachverständigenkommission
ein und brachte eine neue Gesamtreform in Bewegung. 1905 wurden
die Protokolle dem Reichsjustizamt vorgelegt und es entstand ein
Entwurf, der 1909 an den Reichstag gelangte. Hauptprobleme der Reform
waren die Frage der Schwurgerichte und die Frage der Berufung. Die
Schwurgerichte sollten durch große Schöffengerichte ersetzt
werden. Laienrichter sollten in keinem Fall allein über Tat-
und Rechtsfrage entscheiden, sondern in kollegialer Zusammenarbeit
mit Berufsrichtern. Eine Einführung der Berufung in allen Strafsachen
entsprach einem dringenden politischen Wunsch. Der Verurteilte erfuhr
meist erst aus der Begründung des erstinstanzlichen Urteils,
worauf es dem Gericht bezüglich der tatsächlichen Feststellungen
und der rechtlichen Bedeutung ankam. Schwere Delikte sollten vor
eine Strafkammer mit drei Richtern und zwei Schöffen kommen;
die Berufung dann an eine Berufungs-Strafkammmer mit fünf Berufsrichtern.
Das Ende des ersten Weltkriegs brachte eine Wiederaufnahme der Strafprozessreform.
1919 kam es zu einem vorläufigen Entwurf, zu dem Gerichte und
Reichsanwaltschaft Stellung nehmen sollten. 1920 ging der endgültige
Entwurf an den Reichstag („Entwurf eines Gesetzes über
den Rechtsgang in Strafsachen“). Er beinhaltete eine Reihe
von Neuerungen: die Reste des Inquisitionsprozesses wurden beseitigt
und der Gedanke des Anklageverfahrens umgesetzt - Berufung in allen
Strafsachen - Wegfall der gerichtlichen Voruntersuchung - Recht
der Akteneinsicht erweitert - strenge Voraussetzungen für Untersuchungshaft
- Vorverfahren kam ganz in die Hände des Staatsanwaltes. Jedoch
auch diesmal scheiterte die Reform an der ungünstigen politischen
Situation.
Obwohl eine Gesamtreform des Strafverfahrens nie zustande kam, gab
es doch Veränderungen in Form von Novellen und Ergänzungsgesetzen
an der bestehenden Reichsstrafprozessordnung:
•
1898 -Entschädigung unschuldig Verurteilter.
•
1904 - Entschädigung unschuldig Verhafteter
•
1905 - Erweiterung der Zuständigkeit der Schöffengerichte
•
1922 - Frauen wurden als Schöffen, Geschworene und Richter
zugelassen.
•
1924 - Aufgrund der Not der hohen Inflation und des Stillstandes
der Strafrechtspflege kam es zu einer bedeutenden Notverordnung:
das Schwurgericht in seiner alten Form aus der Zeit des Liberalismus
wurde beseitigt und unter Beibehaltung des Namens „Schwurgericht“
in ein kollegiales großes Schöffengericht (3 Richter,
6 Geschworene) umgewandelt. Auch wurde die Zahl der Richter in den
Senaten des OLG herabgesetzt und der Verfolgungszwang bei Übertretungen
und Vergehen eingeschränkt. Was keiner Strafrechtsreform gelungen
wäre, dass gelang der Notverordnung aufgrund der wirtschaftlichen
Krise und den daraus resultierenden Gefahren für die Justizverwaltung.
•
1926 - Beschuldigte erhalten größeren Schutz gegen Verhaftungen.
D.
Gefängnisreform und die Reichsratsgrundsätze
Im Bereich des Strafvollzugswesens gab es bedeutende Fortschritte.
In Willach wurde das erste Jugendgefängnis gebaut und das Jugendgerichtsgesetz
von 1923 stellte den Erziehungswunsch in den Mittelpunkt. Jugendliche
wurden von erwachsenen Gefangenen ausgesondert und es wurde Sorge
für ihr Fortkommen nach der Entlassung getragen. Dies waren
klare Anzeichen dafür, dass die Resozialisierungsidee sich
gegenüber dem Gedanken repressiver Tatvergeltung durch Übelzufügung
langsam durchsetzte.
Aber auch beim Erwachsenenstrafvollzug gab es Fortschritte. Die
Länder vereinbarten 1923 die sog. „Reichsratsgrundsätze“.
Deutlich bestimmt der § 48: „Durch den Vollzug der Freiheitsstrafe
sollen die Gefangenen, soweit es erforderlich ist, an Ordnung und
Arbeit gewöhnt werden.“ Erziehungs- und Besserungsgedanken
wurden zum Prinzip des Vollzuges.
Beim Haftsystem wurde sich nicht auf die Einzelhaft festgelegt,
sondern drei Systeme zur Auswahl gestellt: Einzelhaft, Zellenhaft,
Gemeinschaftshaft. Verbunden sein sollten die Systeme durch einen
Strafvollzug in Stufen („Progressivsystem“). Der dazu
geeignete Gefangene sollte sich durch eine Reihe verschiedener Strafstufen
oder Strafklassen durcharbeiten. Je nach Stufe kam es zu einer weiteren
Lockerung des Strafzwanges, die an das Verantwortungsgefühl,
die Selbstbeherrschung und die innere Energie des Gefangenen ständig
steigende Anforderungen stellten („Erziehung zu einfacher
Sittlichkeit“). Um ein möglichst reibungsloses Zurückführen
in die freie Welt zu ermöglichen, waren Anstaltsunterricht,
Möglichkeit des Lesens von Büchern und Zeitungen und einen
beschränkten Verkehr mit Angehörigen vorgesehen.
Jedoch auch diese Reform war nur ein kurzes Leben beschienen. Die
Nationalsozialisten befürworteten die repressive Abschreckung.
E.
Veränderung der Staatsform
I.
Ende der Monarchie und Weimarer Republik
In der Folge des Ersten Weltkriegs wurden die Kompetenzen der obersten
Heeresleitung stark erweitert. Sie erfasste auch große Teile
des zivilen und wirtschaftlichen Lebens.
Im Oktober 1918 kam die oberste Heeresleitung zu dem Entschluss,
dass ein Krieg nicht mehr weiter zu führen ist und reichte
ein Waffenstillstandsgesuch bei dem amerikanischen Präsident
Wilson ein. Daneben wurde im Einvernehmen mit dem Reichstag eine
Regierung unter dem liberalen Prinzen Max v. Baden gebildet.
Die alliierten Regierungen lehnten es ab, Waffenstillstands- und
Friedensabkommen mit dem deutschen Kaiser Wilhelm II. v. Preußen
zu führen und dieser erklärte am 9. Nov. 1818 seine Abdankung.
Max v. Baden übertrug die Geschäfte des Reichskanzleramtes
an Friedrich Ebert, dem Führer der Sozialdemokraten. Sein Staatssekretär
Philipp Scheidemann erklärte dem Volk die Abdankung des Kaisers
und rief die Republik aus.
Aufgrund dieser Ereignisse dankten auch die anderen deutschen Monarchen
der deutschen Landesteile ab.
Friedrich Ebert erwirkte Neuwahlen zur Bildung einer Nationalversammlung,
die am 19.01.1919 stattfanden. Am 6.02. trat in Weimar die Nationalversammlung
zum ersten Mal zusammen und am 31.07. wurde eine neue republikanische
Reichsverfassung verabschiedet. Ausgearbeitet hatte sie der Staatsrechtler
Hugo Preuß.
II.
Neue Reichsverfassung
Das wichtigste Organ war jetzt die der Reichstag als Versammlung
der vom Volk gewählten Abgeordneten. Wahlfähig waren nun
auch Frauen. An die Stelle des bisherigen Mehrheitswahlsystems,
bei dem in den jeweiligen Walkreisen der Abgeordnete in den Reichstag
einzog, der die meisten Stimmen bekommen hatte, trat nun das Verhältniswahlsystem.
Neben dem Reichstag gab es auch den Reichsrat, die Vertretung der
Länder. Der aber viel weniger Macht als früher hatte.
Die Stellung des Kaisers hatte der Reichspräsident eingenommen,
der alle sieben Jahre vom Volk direkt gewählt wurde. Er bestimmte
den Reichskanzler, dieser wieder seine Minister. Weitere Aufgaben
des Reichspräsidenten waren v.a. Vertretung des Reiches nach
außen, Oberbefehl über die Armee und Begnadigungsrecht.
III.
Mängel der Weimarer Republik
Der Reichstag kannte keine Mindeststimmenzahl für eine Zulassung
von Parteien (heute: 5%-Klausel). Dies führte dazu, dass sehr
viele Parteien in ihm vertreten waren und die Verhandlungsführung
und Beschlussfassung erschwert wurden.
Der Reichskanzler und die einzelnen Minister konnten vom Reichstag
abgewählt werden, ohne dass eine neue Regierung vorhanden war.
Eine Zeit der "Lähmung" der Regierungsarbeit war
die Folge.
Der Reichspräsident wurde vom Volk gewählt, nicht vom
Reichstag. So haben es populäre Persönlichkeiten leicht
gehabt, gewählt zu werden. Nach dem Tod von Friedrich Ebert
wird Paul v. Hindenburg als dessen Nachfolger gewählt. Hindenburg
war Generalfeldmarschall gewesen und von monarchischer Gesinnung.
IV.
Ende der Weimarer Republik
Die wirtschaftliche Lage verschärfte sich zu Beginn der dreißiger
Jahre immer mehr. Jedoch ergriff der Reichskanzler Brüning
(nach Ansicht der heutigen Ökonomen) die falschen Mittel. Statt
durch großzügige Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu
erlassen, verschärfte er die Deflationskrise durch Einschränkungen
der Staatsausgaben noch mehr. Auch seine Nachfolger v. Papen (1932)
und v. Schleicher (1932-33) machten es nicht besser. Lediglich die
Streichung der hohen Reparationszahlungen war ein großer Erfolg.
Die Arbeitslosigkeit stieg weiter an und die Wahlerfolge der extremistischen
Parteien nahmen zu.
Am 30. 01.1933 ernannte Reichspräsident Hindenburg den Führer
der zweitstärksten Reichstagspartei, Adolf Hitler, zum Reichskanzler.
[1]
Friedrich Wilhelm Joseph v. Schelling (1775-1854), deutscher Philosoph
und einer der Hauptvertreter der Philosophie des deutschen Idealismus:
"Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist - Freiheit!"
[2] Loening, Richard (1848-1913), Jurist,
Professor zu Jena.
[3] Franz von Liszt (1851-1919) war von
1898 bis 1917 Professor für Strafrecht und Völkerrecht
an der Berliner Universität, Abgeordneter der Fortschrittlichen
Volkspartei im Preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag.
[4] Rudolf v. Ihering (1818-1892), Professor
des Römischen Rechts. Zunächst Anhänger der historischen
Rechtsschule und der Begriffsjurisprudenz, avancierte er nach seiner
"Bekehrung" zum prominenten Vertreter einer "soziologischen"
Betrachtung des Rechts und der sog. "Zweckjurisprudenz".
[5] [lat.] großer Freibrief; wichtigste
englische Grundgesetz von 1215.
[6] „Ungeheuer“ - Leviathan
ist der Name eines im Meer lebenden Ungeheuers der jüdisch-christlichen
Mythologie.
[7] Cesare Lombroso (1836-1909) war ein
italienischer Arzt, Professor der gerichtlichen Medizin und Psychiatrie.
[8] Der delinquente nato ist eine atavistische,
dem urzeitlichen Wilden ähnliche Varietät der Gattung
Mensch, der unabhängig von allen sozialen Bedingungen unentrinnbar
zum Verbrechen bestimmt und deshalb auch nicht besserungsfähig
sei.
[9] Alexander Lacassagne (1843–1924),
Mediziner, Hauptvertreter der französischen kriminalsoziologischen
Schule.
[10] Gustav Radbruch (1878-1949), Jurist,
Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie zu Kiel u. Heidelberg.
Als Politiker war er Reichstagsabgeordneter und Justizminister im
Kabinett von Wirth und Stresemann.
[11] Wilhelm Kahl (1849-1932), Jurist,
Professor für Kirchen-, Staats- und Verwaltungsrecht zu Berlin;
Reichstagsabgeordneter der DVP.
[12] Rudolf Arnold Nieberding (b. 1838
- d. 1912) war von 1893 bis 1909 Staatssekretär im Reichsjustizministerium.
Als sein Hauptverdienst gilt das Zustandekommen des BGB 1896.
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