Epochen
des Strafrechts
9.
Abschnitt - Die nationalsozialistische Epoche
A. Rechtsstellung und
Funktion des Rechts
B. Materielles Strafrecht
I.
Dualismus der strafrechtlichen Unrechtsfolgen
II.
Bekämpfung des kriminellen Alkoholismus
III.
Akzessorietät der Teilnahme
IV.
Versuch und Vollendung
V.
Todesstrafe
VI.
Bestimmtheitsgrundsatz
VII.
Sühnegedanke und Schutzfunktion
VIII.
Entwicklung der Polizeigewalt
C. Strafverfahrensrecht
I.
Macht der Staatsanwaltschaft
II.
Aussagezwang und Folter
III.
Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeit
IV.
Sondergerichte
V.
Rechte der Richter
9.
Abschnitt - Die nationalsozialistische Epoche
Reichskanzler
Hitler ließ bald nach seiner Ernennung Neuwahlen ausschreiben.
Seine NSDAP bekam 43 % der Sitze und er erlangte durch Bildung einer
Koalition mit der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) die absolute
Mehrheit im Reichtag.
Hitler konnte den Reichstag dazu bewegen, ihm nahezu unbeschränkte
Vollmacht zu erteilen (Ermächtigungsgesetz vom 24.03.1933).
Durch die Streichung der Reparationszahlungen befand er sich in
einer wirtschaftlich besseren Lage und konnte durch weitere Maßnahmen
(Rüstungsaufträge, Bau von Autobahnen, Einführung
der allgemeinen Wehrpflicht) die Arbeitslosenzahlen völlig
abbauen.
1934 wurden durch die "Gesetze zur Gleichschaltung der Länder
mit dem Reich" die Volksvertretung der Länder (Reichsrat)
beseitigt. Die Länderregierungen unterstanden fortan den Reichsorganen.
Als Hindenburg Mitte 1934 starb, nahm sich Hitler auch die verfassungsmäßigen
Kompetenzen des Reichspräsidenten.
A.
Rechtsstellung und Funktion des Rechts
Das grundlegende Prinzip der nationalsozialistischen Rechtsphilosophie
war der Vorrang des Gemeinnutzens - Gemeinnutz geht vor Eigennutz.
Nicht der einzelne Rechtsträger stand im Vordergrund, sondern
die Rechtsgemeinschaft. Ihr hatte sich der Einzelne unterzuordnen,
wenn seine Interessen mit denen der Gemeinschaft kollidierten.
Das Recht galt nur für die der Gemeinschaft angehörigen
Artgleichen. Sie waren durch die blutsmäßige Bindung
miteinander verbunden. Für Artfremde galt ein Sonderrecht.
Zu diesen "Fremdvölkischen" zählten besonders
Polen und Juden.
Das Recht wurde nicht mehr aus der Philosophie oder der historischen
Erfahrungen gefunden, sondern einzig und allein daraus, was für
die konkrete Lebensordnung notwendig ist.
Daraus ergibt sich auch die Funktion von recht und Rechtssprechung.
Sie hatte die Aufgabe, "die konkrete völkische Gemeinschaftsordnung
zu wahren, Schädlinge auszumerzen, gemeinschaftswidriges Verhalten
zu ahnden und Streit unter den Gemeinschaftsmitgliedern zu schlichten".[1]
B.
Materielles Strafrecht
I.
Dualismus der strafrechtlichen Unrechtsfolgen
Das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über
Maßregeln der Sicherung und Besserung vom November 1933 brachte
für das System der strafrechtlichen Unrechtsfolgen einen Dualismus.
Der Dualismus dieses Systems bestand zum einen darin, dass gefährliche
Gewohnheitsverbrecher mit Zuchthausstrafe bedroht wurden, aber auch
andererseits sichernde Maßnahmen eingeführt wurden. Diese
Sicherungsmaßnahmen sollten im Anschluss an die Verbüßung
der Strafe zu einer Resozialisierung oder zu einer Unschädlichmachung
führen. Mittel der Resozialisierung waren Unterbringung in
einer Heil- und Pflegeanstalt oder Trinkerheilanstalt. Eine Unschädlichmachung
erfolgte durch Sicherungsverwahrung oder Entmannung. Die Spezialpräventionslehre
tritt hier deutlich in den Vordergrund.
II.
Bekämpfung des kriminellen Alkoholismus
Ebenfalls wurde mit dem Gesetz ein Schwachpunkt der bisherigen Gesetzgebung
beseitigt. Der Täter einer strafbaren Handlung, die er unter
Alkoholeinfluss begangen hatte, konnte aufgrund seiner Zurechnungsunfähigkeit
nicht bestraft werden, denn die schuldhafte Herbeiführung des
alkoholischen Zustandes wurde nicht berücksichtigt. Um dies
zu ändern wurde der § 330a ins Reichsstrafgesetzbuch (RStGB)
eingeführt: " Wer sich schuldhaft in einen durch Begehung
einer Straftat als gefährlich erwiesenen Vollrauch versetzt,
ist wegen dieser Herbeiführung des gefährlichen Zustandes
strafbar." Dieses Gesetz förderte die wirksame Bekämpfung
des kriminellen Alkoholismus.
III.
Akzessorietät der Teilnahme
Die sog. Akzessorietät der Teilnahme wurde gelockert. Bisher
war für die Strafbarkeit des Teilnehmers die Schuld des Täters
beachtlich, nun wurde sie davon unabhängig gemacht. Jeder Beteiligte
wurde entsprechend seiner eigenen Schuld bestraft.
IV.
Versuch und Vollendung
In dem Verhältnis zwischen versuchten und vollendeten Delikt
kam es durch die sog. Strafangleichungsverordnung vom Mai 1943 zu
einer Gleichbehandlung. Das versuchte Delikt musste gemäß
dem alten § 44 milder als das vollendete bestraft werden ("Mussvorschrift"),
nun konnten beide gleichbehandelt werden ("Kannvorschrift").
V.
Todesstrafe
Bei der Todesstrafe wurde ihr Anwendungsgebiet stark erweitert.
Besonders davon betroffen waren die Delikte des Hoch- und Landesverrats
und das Vorgehen gegen Volksschädlinge.
Auch Abstufungen wurden wieder eingeführt, neben der Enthauptung
auch das Erhängen. Ihre Verhängung wurde vom Wortlaut
des Gesetzes in das Ermessen der Richter verlagert. Unklare Formulierungen
machten dies möglich:" Wer in räuberischer Absicht
eine Autofalle stellt, wird mit dem Tode bestraft" (Gesetz
gegen Straßenraub mittels Autofallen vom Juni 1938).
VI.
Bestimmtheitsgrundsatz
Die Berechenbarkeit und Bestimmtheit der Strafurteile wurde aufgeweicht.
Die bisher verbotene Analogie zur Erweiterung und Ergänzung
der gesetzlichen Straftatbestände wurde durch Änderung
des § 2 RStGB ermöglicht: "Bestraft wird, wer eine
Tat begeht, die das Gesetz für strafbar hält, oder die
nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden
Bestrafung verdient". Damit wurde der Gedanke vom nullum crimen,
nulla ponea sine lege des alten § 2 beseitigt.
VII.
Sühnegedanke und Schutzfunktion
Das Gesetz gegen Gewohnheitsverbrecher gründete seine Sicherungsmittel
auf dem Gedanken der spezialpräventiven Tatvergeltung und stand
damit im Gegensatz zum RStGB von 1870, dass auf Generalprävention
beruhte.
Durch die Verordnung über den Vollzug der Freiheitsstrafen
vom Mai 1934 wurde der § 48 RStGB geändert: " Durch
die Verbüßung der Freiheitsstrafe sollen die Gefangenen
das begangene Unrecht sühnen". Der Sühnegedanke stand
klar im Vordergrund. Hinzu kam durch eine Verordnung von 1940 noch
eine Schutzfunktion: " Durch den Vollzug der Freiheitsstrafe
soll das Volk geschützt, das begangene Unrecht gesühnt
und der Begehung neuer Straftaten vorgebeugt werden." Wobei
nun der Sühnegedanke in den Hintergrund trat und das Schwergewicht
auf der Schutzfunktion lag.
Die Funktion des "Schutzes der Volksgemeinschaft" trat
in der Folge noch deutlicher hervor. Das Gesetz zur Änderung
des StGB stand ganz im Zeichen des Zweckmässigkeitsgeschichtspunktes:
" Der gefährliche Gewohnheitsverbrecher (§ 20a) und
der Sittlichkeitsverbrecher (§§ 176-178) verfallen der
Todesstrafe, wenn der Schutz der Volksgemeinschaft oder das Bedürfnis
nach gerechter Sühne es erfordern."
VIII.
Entwicklung der Polizeigewalt
Besonders einschneidend war die Entwicklung der Polizeigewalt. Kein
Bürger war vor ihr sicher. Auch wer vor Gericht freigesprochen
wurde oder seine Strafe verbüßt hatte, konnte im Anschluss
daran in polizeiliches Gewahrsam genommen werden. Das Mittel dazu
war die sog. "Schutzhaft". Sie war der richterlichen Kontrolle
komplett entzogen und lag einzig im Ermessen der Polizeibehörden.
Damit war es möglich, ohne jegliche Kontrolle gegen politisch
missliebige Personen vorzugehen. Die in Schutzhaft genommenen Personen
kamen dann oft in die von der sog. "Schutzstaffel" (SS)
geleiteten Konzentrationslager. Sie starben in der Gaskammer oder
durch Genickschuss. Eine Vernichtung aller unerwünschten Individuen
war möglich geworden.
C.
Strafverfahrensrecht
I.
Macht der Staatsanwaltschaft
Im Bereich des Verfahrensrechts wurde die Justiz unter die Herrschaft
der Verwaltung gestellt. Die Staatsanwaltschaft bekam immer mehr
Rechte. Nicht nur gegenüber dem Beschuldigten, auch gegenüber
dem Gericht. In einer Fülle von Veränderungen kam es zur
Auflockerung aller schützenden Formen, zum Abbau der Verteidigungsmöglichkeiten
und zur Schwächung des richterlichen Einflusses zugunsten des
staatsanwaltschaftlichen.
Der
Grundsatz, dass niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden
darf (§ 16 Gerichtsverfassungsgesetz) wurde zugunsten der Staatsanwaltschaft
eingeschränkt. Durch die Zuständigkeitsverordnung von
1940 konnte der Staatsanwalt für den konkreten Einzelfall sich
für das Gericht entscheiden, dass ihm nach Lage der Sache am
geeigneten erschien. Traf seine Wahl auf das Sondergericht, so war
damit auch eine Verkürzung des Instanzenweges verbunden, denn
vor Sondergerichten war dem Beschuldigten die Möglichkeit einer
Urteilsanfechtung genommen. Rechtsmittel gab es gegen Urteile der
Sondergerichte nicht.
Die
Staatsanwaltschaft war auch Herrin des Vorverfahrens. Ihr allein
oblag die Entscheidung, ob es zu einer gerichtlichen Voruntersuchung
kommt. Weder Gericht noch die Beschuldigten ("Klageerzwingungsverfahren")
hatten darauf Einfluss.
Selbst
die Rechtskraft richterliche Urteile unterstand jetzt der Staatsanwaltschaft.
Der Oberreichsanwalt konnte gegenüber rechtskräftigen
Urteilen den ordentlichen Rechtsbehelf der Nichtigkeitsbeschwerde
einlegen. Kein Urteil war mehr rechtssicher und kein Freigesprochener
konnte sich mehr auf ein rechtskräftiges Urteil zu seinen Gunsten
verlassen.
Der Oberreichsanwalt unterstand dem Reichsjustizministerium und
dieses wurde von Beamten aus der "Partei" geleitet. Damit
war auch der Einfluss der Partei auf die Rechtsprechung gesichert.
II.
Aussagezwang und Folter
200 Jahre nach Friedrich II. wurde das Verbot jeglichen Aussagezwanges
und der Beseitigung der Folter praktisch wieder aufgehoben. Zwar
blieb der § 343 RStGB (Verbot des Aussagezwangs und der Geständniserpressung)
im Gesetz bestehen, jedoch wurde ohne weitere Konsequenzen gegen
ihn verstoßen. Polizei und Geheime Staatspolizei wendeten
ständig die Folter an, um ein Geständnis zu erhalten.
Methoden waren angefangen von Hungerhaft bis zu schwersten physischen
Quälereien. Ein abgelegtes Geständnis war für immer
bindend. Der Beschuldigte kam auch vor Gericht davon nicht mehr
los. Wagte es doch einmal ein Angeklagter, auf die Art der Geständniserlangung
hinzuweisen, wurde sie von den Ermittlungsbehörden schlicht
geleugnet. In die Gerichtsakten kamen diese Folterungen nicht hinein.
Für das Gericht hatten sie schlicht nicht stattgefunden.
Es kam der Polizei einfach nur auf den "Erfolg" an, einen
Beschuldigten zu überführen und ihn zu einer Verurteilung
zu bringen. Die Wahrheitsermittlung stand nicht im Interesse. Sie
wurde von der Vollzugsbehörden nicht als Erfolg verbucht.
III.
Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeit
Durch eine Verordnung von 1939 wurde als weitere Einschränkung
der Verteidigungsmöglichkeiten der Umfang der Beweisaufnahme
beschränkte: "Das Gericht kann einen Beweisantrag ablehnen,
wenn es nach seinem freien Ermessen die Erhebung des Beweises zur
Erforschung der Wahrheit nicht für erforderlich erachtet."
Nun bestand für den Richter die Möglichkeit, unter Vorwegnahme
der Beweiswürdigung einen Beweisantrag des Beschuldigten oder
seines Verteidigers abzulehnen. Diese Möglichkeit war bis dahin
vom Reichsgericht bekämpft worden.
IV.
Sondergerichte
Im März 1933 erfolgte die Wiedereinführung der Sondergerichte.
In jedem Oberlandesgerichtsbezirk wurde dem jeweiligen Sondergericht
die Aburteilung von Delikten "zum Schutz von Volk und Staat"
übertragen. Dazu gehörten besonders die Tatbestände
mit politischem Charakter, die durch weitere Gesetze geschaffen
wurden. So mit dem Gesetz "zur Gewährleistung des Rechtsfriedens",
"gegen Verrat der deutschen Volkswirtschaft", das Gesetz
gegen Wirtschaftssabotage und das Heimtückegesetz. Durch eine
Verordnung von 1938 wurde die Zuständigkeit weiter ausgedehnt,
nämlich " bei Verbrechen, die zur Zuständigkeit des
Schwurgerichts oder eines niedrigen Gerichts gehören, kann
die Anklagebehörde Anklage vor dem Sondergericht erheben, wenn
sie der Auffassung ist, dass mit Rücksicht auf die Schwere
oder Verwerflichkeit der Tat oder die in der Öffentlichkeit
hervorgerufene Erregung die sofortige Aburteilung durch das Sondergericht
geboten ist."
In ihrer Zusammensetzung bestanden diese Volksgerichte aus drei
Berufsrichtern.
Im Vordergrund stand die Schnelligkeit des Verfahrens. Die Staatsanwaltschaft
konnte die Angelegenheit der ordentlichen Gerichtsbarkeit entziehen
und vor das Sondergericht bringen. Damit verbunden war für
den Beschuldigten die Verkürzung des Rechtsweges, denn bei
Urteilen des Sondergerichts war kein weiteres Rechtsmittel gegeben
und der Entzug von Beweisanträgen, denn auch die Beweiserhebung
konnte von dem Sondergericht abgelehnt werden. Die Ladungsfrist
betrug drei Tage.
Ein
weiteres Sondergericht war der Volksgerichtshof, der die erst- und
letztinstanzliche Zuständigkeit für Hoch- und Landesverratssachen
und für schwerste politische Kriminalität vom Reichsgericht
übernahm. Seine Senate bestanden aus drei Berufsrichtern und
drei Schöffen. Sie wurden besonders ausgesucht, vom Führer
ernannt und stammten ausschließlich aus der "Partei".
Ihr Vorsitzender war ab 1942 Roland Freisler[2]
.
V.
Rechte der Richter
Doch nicht nur dem Beschuldigten wurden Rechte aberkannt, auch die
Richter wurden eingeschränkt. Ihre Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit
wurde aufgehoben. Das Mittel dazu war das Gesetz zur Wiederherstellung
des Berufsbeamtentums von 1933, mit dem politisch unerwünschte
Personen aus dem Staatsdienst entfernt werden konnten. Das Beamtengesetz
von 1937 sah weiter die Versetzung eines Beamten in den Ruhestand
vor, wenn er nicht die Gewähr für ein jederzeitiges Eintreten
der nationalsozialistischen Ziele leisten kann.
Hitler selber behielt sich in der Folge vor, jeden Richter ohne
jegliches Verfahren aus dem Amt zu entfernen, der sich nicht im
politischen Sinne als völlig gefügig erwies.
[1]
Aus: Leitsätze über Stellung und Aufgaben Richters, in:
Dahm, Georg / Eckhardt, Karl August / Höhn, Reinhard / Ritterbusch,
Paul / Siebert, Wolfgang; Deutsche Rechtswissenschaft I (1936),
S. 123 f.. Abgedruckt in: Kroeschell, Karl; Deutsche Rechtsgeschichte
3, Opladen 2001.
[2] Roland Freisler (1893-1945), Jurist
und Anwalt in Kassel, er verteidigte in der Weimarer Republik straffällig
gewordene Nationalsozialisten, in Dritten Reich wurde er erst Staatssekretär
im Justizministerium und später Vorsitzender Richter am Volksgerichtshof.
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