Geschichte des Strafrechts


 

Konfliktregelung in den
frühmittelalterlichen Leges

 

1. Kapitel - Konfliktregelung, Geltung und Begriff der Volksrechte
        I. Begriff der Volksrechte
      II. Geltung der Volksrechte
        III. Konfliktregelung in den Volksrechten

 

 

 

 

1. Kapitel - Konfliktregelung, Geltung und Begriff der Volksrechte

Im Rahmen des ersten Teils möchte ich aufzeigen, warum die frühmittelalterlichen Leges als Volksrechte bezeichnet werden, wie bei ihnen Konflikte geregelt wurden und für wen die Normen Geltung hatten.

I. Begriff der Volksrechte

Die frühmittelalterlichen Leges werden als Volksrechte bezeichnet, da sie unmittelbar und ungebrochen aus den Überzeugungen der Gesamtheit hervorgingen.

Das Recht war ungeschrieben und wurde mündlich überliefert[1]. Es bestand auch kein Bedürfnis, einen Rechtssatz aufzuschreiben, solange die Gesamtheit der Rechtsgenossen in gleicher bäuerlicher Lebensform lebte und auf gleicher Kulturstufe stand. Die Grundsätze des Rechts bildeten sich im Denken der Rechtsgenossen, des Stammes oder Volkes, ohne bewußte Rechtssetzung und ohne eigentliche Zweckerwägung[2]. Es ging fast vollständig im Gewohnheitsrecht auf. Das Vorhandensein von Satzungen darf zwar nicht schlichtweg abgelehnt werden[3], aber in der Hauptsache wurde das Recht durch unmittelbare Anwendung der Rechtssätze entwickelt und fortgebildet[4]. Es wurde nicht durch Rechtsgebot gesetzt, sondern im Einzelfall aus dem gleichartigen Rechtsbewußtsein der Volksgenossen gefunden. Es war Volksrechts. Seine Ausbildung und Anwendung war nicht auserwählten und berufsmäßigen Organen überlassen, sondern vollzog sich in den Gerichtsverhandlungen, in denen sich alle freien Männer an der öffentlichen Rechtsprechung beteiligten[5]. Da die Rechtskenntnis Allgemeingut des Volkes war[6], wie Glaube und Sprache, bestand kein Bedürfnis zu schriftlicher Fixierung. War das Recht im Einzelfall zweifelhaft, so half man sich durch Aufnahme eines Wahrspruchs, welchen dafür ausgewählte und erfahrene Männer abgaben.

Dieses Recht, da nicht gemacht und nicht gesetzt, erschien bei den sich jahrhundertelang gleichbleibenden Lebensverhältnissen der Frühzeit als eine ewig gültige Ordnung der Dinge, als eine den Dingen des Lebens innewohnende, natürliche Ordnung[7].

Erst später entwickelte sich das Bedürfnis nach geschriebenem Recht. Die Gründe waren vielschichtig: Zum einen bedurften die neuen Verhältnisse zwischen Römern und Germanen, als diese sich in Folge des Sieges auf römischem Boden niedergelassen hatten und begannen, Städte zu gründen, einer festen Regelung der bisher unberücksichtigten Verhältnisse und Rechtsfragen[8]. Zum anderen führte die Notwendigkeit einer raschen Festigung des entstandenen Reiches nach römischem Vorbild zu einer Fixierung des alten Gewohnheitsrechts[9], ebenso wie das Bestreben der Könige, an die Stelle der Selbsthilfe in langen und blutigen Fehden den friedlichen Ausgleich durch Zahlung einer Buße zu setzen[10]. Das Recht entsprang nun nicht mehr der ewigen Ordnung der Dinge, sondern dem Willen der Obrigkeit. Der König bewirkte, daß das Verkündete nunmehr für alle Untertanen verbindliches Recht sein sollte. Das Rechtsgebot ersetzte das ungeschriebene, durch Selbstbindung vereinbarte Gewohnheitsrecht[11].

II. Geltung der Volksrechte

Im folgenden möchte ich kurz aufzeigen, für wen das Recht galt und welche Stellung der Einzelne innerhalb des Rechtes hatte:

Das Recht knüpfte an die Person als Glied eines Personenver-bandes an[12]. Erst im Hochmittelalter begann man, das Recht territorial und individuell zu begründen als ein Normensys-tem, das für alle Menschen in einem bestimmten Gebiet in gleicher Weise galt. Bis dahin lebte jeder nach dem Recht, das er von seinen Ahnen ererbte. Recht war die Summe jener Normen, die der Mensch in seinem Personenverband, in Familie, Ver-wandtschaft und Stamm vorfand, nicht das Recht eines Landes[13].

Träger von Rechten und Pflichten war nicht der einzelne Mensch. Familie und Verwandtschaft waren Träger aller Rechte und Pflichten und teilten dem Einzelnen seine zu. Am Recht hatte der Einzelne also nur insoweit Anteil, als er Mitglied eines durch gemeinsame Abstammung begründeten Personenverbandes war[14]. Das heute für diesen Geschlechtsverband gebräuchliche Wort ist Sippe. Von diesem ältesten Rechtsverband hing das gesamte Wohlergehen des Einzelnen ab. Er war nur innerhalb dieses Verbandes überlebensfähig. Vereinsamung bedeutete Todesgefahr. Der Geschlechtsverband war auch Träger von Rechten und Pflichten im Verhältnis zu anderen Personenverbänden und gewährleistete Schutz und Sicherheit[15]. Wurde eine Mitglied des Verbandes zu einer Buße verurteilt, so war nicht der einzelne Rechtsbrecher Schuldner der Buße sondern die gesamte Sippe[16]. Der Rechtsbruch mochte zwar innerhalb der Sippe als schlimm angesehen werden, nach außen hin aber hafteten sie für ihn. Er war Freund im Sinne des Rechts.

III. Konfliktregelung in den Volksrechten

Zuletzt möchte ich einen Überblick darüber geben, wie Konflikte in der Frühzeit geregelt wurden und auf welche Art und Weise man einen Rechtsbrecher bestrafte:

Im frühzeitlichen Recht ging es um die Beziehung zwischen Menschen, Sachen und Göttern. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich auf einen kleinen Fall zurückgreifen: Ein Mensch geriet beim Baumfällen unter den stürzenden Baum und verlor dadurch sein Leben. Es wurde nun nicht danach gefragt, ob der Baumfäller dafür haften müsse, sondern es wurde als Buße das Wergeld für den Tot eines Menschen festgesetzt[17]. Auch wurde weder aufgrund der unglücklichen Umstände dessen Höhe gemindert, noch auf eine Buße verzichtet, obwohl die Tötung durch Zufall erfolgte. Das Recht fragte nicht nach dem Täter, nach Fahrlässigkeit oder Vorsatz, es betrachtete die Tat allein als Ursache für den Tod. Anlaß der Bußpflichtigkeit war der Rechtsbruch als ein äußeres Ereignis[18]. Ethische Bewertungen fanden nicht statt. Um dies verstehen zu können, muß tiefer in das Rechtsempfinden der Germanen eingedrungen werden: Für sie war der Rechtsbruch ein hervorgerufener Zustand der Entheiligung, einer Störung der Beziehung zwischen der Gottheit und den Menschen[19]. Durch den Rechtsbruch entstand Unheil, welches wegen seiner schlimmen Folgen wieder aus der Welt geschafft werden mußte. Eine durch Rechtsbruch krank gewordene Welt mußte kultisch wieder gereinigt werden.

Das war kein philosophisch gedachter Zustand, der lediglich den Täter betraf und notfalls durch Zeitablauf wieder aus der Welt geschafft wurde, sondern der Rechtsbruch fraß sich fort. Wollte die Rechtsgemeinschaft nicht insgesamt Schaden nehmen, mußte der Zorn der Götter schnell befriedigt werden. Rechtsbruch war deshalb keine Privatsache und die Beseitigung der Folgen eine Frage des Gemeinwohls. Beachtet man die Tatsache, daß der Rechtsbruch kein Gegenstand menschlicher Rechtspolitik war, wird es auch verständlicher, warum das damalige Recht keine Gnade kannte. Hatte der Rechtsbruch eine objektiv unheilstiftende Wirkung hervorgerufen, konnte sie auch nur in einem objektiven Verfahren beseitigt werden.

Die dazu notwendige Buße bezeichnete nicht etwa eine Gesinnung, sondern ein Tun, die Technik der Beseitigung von Unheil. Buße war Wiedergutmachung und Heilungszauber: wie das Recht durch den Rechtsbruch in seiner magischen Ordnung entheiligt wurde, so mußte es auch auf magische Weise wieder geheilt werden. Dabei war es unerheblich, wer die Buße zahlte. Nicht der Schädiger büßte, sondern der ganze Geschlechtsverband. Auf der anderen Seite erhielt auch nicht der Verletzte die Buße, sondern seine gesamte Sippe[20].

Als letztes nur soll es darum gehen, ob und mittels welcher Sanktion ein Rechtsbrecher verpflichtet werden konnte, einer Ladung des Gerichts Folge zu leisten und sich der verkündeten Buße (Urteil) zu unterwerfen. Am Anfang der Rechtspflege stand die Selbsthilfe mittels Fehde. Dieser Zustand war durch Einführung der Dingpflicht[21] und den Zwang zur Zahlung der Buße abgelöst worden[22]. Die Gerichtsbarkeit war Heilshandlung und stand in engem Zusammenhang mit anderen heiligen Handlungen. Auch der Gerichtsort mußte heilig sein, sollte das Gericht dem Volk Glück bringen[23]. In einem solchen Gerichtsverfahren ermittelte nicht der Richter das Recht und verkündete es im Urteil, sondern Rechtsfindung und Urteilsspruch waren von einander getrennt. Der Richter saß dem Gericht vor und fragt die Urteiler, was Rechtens ist[24]. Was er von ihnen mitgeteilt bekam, verkündete er als Rechtsspruch der Gerichtsgemeinde[25]. Die Urteiler waren Leute mit besonderem Ansehen, Vornehmheit und Alter. Sie einigten sich nicht nach Erwägungen der Zweckmäßigkeit oder der Billigkeit, auch stand die Entscheidung nicht in ihrem Belieben, sondern sie mußten Recht finden und feststellen, was in diesem Fall von jeher Rechtens war. Einen Ermessensspielraum hatten sie dabei nicht, es konnte nur ein Ergebnis Recht sein[26]. Die Urteiler hatten aber nicht das letzte Wort. Ihr Urteil mußte die Zustimmung der gesamten Gerichtsgemeinde[27] finden. Bei nur einem Widerspruch verlor das Urteil seine Verbindlichkeit, denn nur durch einstimmiges Handeln konnte der Frieden mit den Göttern wieder hergestellt werden.

Das heutige Hauptproblem des modernen Strafprozesses, die Ermittlung des zu beurteilenden Sachverhalts (der Wahrheit), bestand damals nicht[28]. Wer den Spuren seiner gestohlenen Kuh folgte und so einen anderen mit seiner Kuh überraschte, bewies durch dieses Verfahren der Spurfolge[29], daß jener der Dieb war. Wurde er vom Bestohlenen zum Gericht geführt, so mußte dieses von der so geklärten Tatfrage ausgehen und das Urteil sprechen. Ein Leugnen oder Gegenbeweise halfen dem Beschuldigten nicht, es blieb nur die Möglichkeit, sich durch einen Eid zu reinigen. Dieser Eid war eine Art Selbstverfluchung und stellte die Wahrheit zauberisch her, denn der Schwörende sprach dadurch selber das Urteil über sich. Nunmehr war bewiesen, daß es die Tat nicht gab und damit kein Rechtsbruch vorlag. Der Eid wurde um so stärker, je mehr Eidhelfer dem Beklagten zur Seite standen. Eidhelfer waren meist Angehörige der eigenen Sippe. Sie traten als Garanten für den Beschuldigten auf und entkräfteten durch die eigene Selbstverfluchung den gegen diesen erhobenen Verdacht. Von der Tat selber mußten sie nichts wissen. Konnte der Beschuldigte nicht die erforderliche Anzahl von Eidhelfern finden, blieb ihm nur noch das Gottesurteil. Solche Gottesurteile fanden durch Kesselfang[30], Pflugscharengang[31], Eisen-[32] oder Wasserprobe[33] statt. Der Ausgang entschied über die Wahrheit.

 

 

[1] . Mitteis-Lieberich 21; v. Schwerin-Thieme 20.
[2] . Mitteis-Lieberich 21; v. Schwerin-Thieme 20.
[3] . Caesar (Da bello gall. IV 2) berichtet von einem Verbot der Weineinfuhr bei den Schweden.
[4] . Schulte 18.
[5] . Rüping [Grundriß] 5.
[6] . Brunner I 152.
[7] . Ebel 13.
[8] . Stobbe [Geschichte] 13.
[9] . Kaufmann [Grundlagen] 17.
[10] . Kroeschell [RG] 43; Sellert-Rüping 55.
[11] . Ebel 26.
[12] . Schulte 24; Rüping [Grundriß] 2.
[13] . Hattenhauer 21.
[14] . Mitteis-Lieberich 24.
[15] . Conrad 47; Kroeschell ZRG 77, 1, 14.
[16] . Conrad 49; Kroeschell ZRG 77, 1, 13; Mitteis-Lieberich 24; v. Schwerin-Thieme 19.
[17] . vgl. Lex Sal. 53: Wenn ein Baum von jemandem gefällt worden ist und durch Zufall einen anderen erschlägt, so soll derjenige, der den Baum gefällt hat, als Sühne das volle Wergeld zahlen.
[18] . Rüping [Grundriß] 2.
[19] . Rüping [Grundriß] 2 f.
[20] . v. Schwerin-Thieme 18 f.
[21] . Lex Sal.: "Wenn einer nach dem Königsrecht zum Gericht geladen wird und nicht kommt, der werde ... 15 Schilling ... zu zahlen verurteilt."
[22] . Ed. Roth. 74: "Bei all den oben beschriebenen Hieb- und Stichwunden ... haben wir deshalb eine höhere Buße festgesetzt als unsere Vorfahren, damit die Fehde ... aufhöre ... und die Sache been det sei und Freundschaft (= Rechtsfrieden) herrsche."
[23] . Grimm II 411; Brunner I 196; v. Schwerin-Thieme 27.
[24] . Rosenthal 69: "Richter war Frager des Rechts".
[25] . Schultze 97 ff; Brunner I 203; v. Schwerin-Thieme 27.
[26] . Hattenhauer 38.
[27] . Sie bestand aus den zum Gericht gekommenen Dingpflichtigen; v. Schwerin-Thieme 22.
[28] . Kroeschell [RG] 44 f.; Sellert-Rüping 63 f.
[29] . Das Verfolgen des auf die Spur gekommenen Diebes mit anschließender Hausdurchsuchung; vgl. v. Schwerin [Formen].
[30] . Das Herausholen eines Gegenstandes aus einem Topf kochenden Wassers mit bloßer Hand.
[31] . Das Gehen über glühende Pflugscharen mit bloßen Füßen.
[32] . Das Tragen von glühendem Eisen mit bloßen Händen.
[33] . Das Werfen eines gefesselten Probanden in ein Gewässer. Auffällig daran war, daß der Beweis der Unschuld nicht durch Schwimmen an der Oberfläche, sondern durch Untergehen erbracht wurde: das reine Wasser nahm ihn auf, während der Schuldige vom Wasser abgestoßen wurde und oben schwamm.

 

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Inhalt:
Einleitung
-> Konfliktregelung, Geltung und Begriff der Volksrechte
Die wichtigsten Quellen des geschriebenen Rechts
Das Strafsystem
Die einzelnen Straftatbestände und ihre Sanktionen    [Teil 2]       [Teil 3]
Literatur

 

 

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